Poetry Slam 23.9.22
Wenn man Leute zu einer Dichterlesung einladen würde, 90 Minuten aus einem Buch, hm, wie viele Leute würden dann kommen? Bernard Hoffmeister, der Moderator des Abends vermutet: Kaum jemand. Deshalb dieses Format: Poetry Slam. Der englische Titel reizt. Keiner darf länger als sechs Minuten lesen. Und das Schärfste: Wettbewerb! Eine Jury kürt die Siegerin/den Sieger.
Die Jury: Fünf Leute aus dem Publikum, ausgerüstet mit Wertungstafeln von 1 (=miserabel) bis 10 (=nobelpreisverdächtig).
Eingeheizt wurde dem Publikum von Simon Slomma, einem Bonner Gitarren-Rapper.
Ein guter Beobachter, er holt seine Themen aus dem Alltagsleben, ironisiert hippe Trends: „Aus Turteltauben werden bausparende Brautpaare!“
Dann kommt der erste Poetry Slammer: Wolle aus Aachen.
Vom Typ her vergleichbar mit Rüdiger Hoffmann aus Paderborn. Ein ruhiger, fast phlegmatischer Zeitgenosse, dessen Gags eher aus dem Hinterhalt zünden. Kein Wunder: Als Jugendlicher dachte er nicht an Mädchen, sondern daran, den Traktorführerschein zu machen. Was ihm bis zu dessen Überreichung widerfuhr, ist dann brüllend komisch.
In seinem zweiten Text enthüllt er die Wahrheit über die nur scheinbar harmlosen Gänse. „Wölfe töten um zu fressen, die Gans tötet aus Spaß. Seitdem ich die Gans kenne, glaube ich nicht mehr an Gott.“
Anna Lisa Azur aus Bonn überschreibt ihren Text mit „Das Landei-Manifest“.
Eine sehr herzliche und empathische Auseinandersetzung mit dem Thema „Heimat“, eine Hommage ans Landleben, mit kleinen anarchistischen Eruptionen: „Wir leben am Busen der Natur und nicht am Arsch der Welt. Kommst du uns in die Quere, haben wir auch Orte, die niemand kennt.“ Starker Beifall!
Ihr zweiter Text ist ein Liebesgedicht. Adressat ist ihr Großvater. Er hat sie zum Schreiben und zum Handwerken gebracht. Ihm hat sie Lebensentscheidungen zu verdanken. Jetzt ist er dement und lebt im Pflegeheim. Anna Lisa teilt die Verehrung für die Pflegekräfte: „Bei meinem zweiten Besuch begrüßten sie mich mit meinem Vornamen!“ Ein herzzerreißender Text!
Der dritte im Bunde: Max Raths aus Düsseldorf
„Mann Mann Mann“ nennt er seinen Text. Zitate zeigen den Tenor: „Echte Männer sind hart, sind vom Sternzeichen Felix Magath.“ „Unfassbar cool mit dem Heizwert eines Eisfaches.“ „Der 44er Bizeps kompensiert nicht den 44er IQ.“ „Die Welt bräuchte Männer, die Fehler eingestehen.“ „Mach den Fernseher an und du hörst Klischees.“ „Ich bin ein Mann, aber kein Klischee, ich darf weich sein. Ich darf in den Arm genommen werden. Ich darf Gewalt ablehnen.“ - Sehr ehrliche, schonungslose Auseinandersetzung mit der tradierten Männerrolle.
Auch in seinem zweiten Text setzt er sich mit Klischees auseinander und zeigt auf, wie privilegiert wir sind. Klug!
Schließlich betritt Emil Bosse aus Köln die Bühne.
Er sei Waldorfschüler gewesen. Träumt von einem Auslandssemester in Italien. Von Weltoffenheit, Liberalität, Unangepasstheit und davon, wie diese Träume langsam verschwinden – oder doch nicht? Vielleicht wird er Lehrer, träumt von unangepassten Schülern. Und von einer Klassenfahrt nach… Bologna?
Auch sein zweiter Text handelt von der vermeintlich hippen, globalisierten Generation: „Ihren Kindern geben sie skandinavische Namen!“
Die Wertung der Jury ist durchweg positiv. Und einhellig: Sie kürt Anna Lisa Azur zur Siegerin!
Das ist das wunderbare an Poetry Slams wie diesem: Man wird prächtig unterhalten und geht mit dem Gefühl nach Hause, dass man ein bisschen klüger geworden ist. Besser geht’s nicht!
Bernd Woidtke